Abendgedanken zur Ukraine, Serbien, Ungarn
Francis Fukuyama kann einem schon leid tun. Bis an sein Lebensende und darüber hinaus wird man ihn und seine Schrift „The End of History“ als Beispiel dafür heranziehen, wie sehr man sich doch beim Vorhersagen der geopolitischen Entwicklung irren kann. Seine These, dass sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die liberale Demokratie und freie Marktwirtschaft weltweit durchsetzen würden, war geprägt von einem hoffnungsvollen Moment. Der Kalte Krieg war vorbei. Von da an konnte es nur noch aufwärts gehen. Stimmt ja gar nicht, sagten wenig später einige, viele, schließlich alle, die wussten, wer Fukuyama ist und was er da geschrieben hatte.
Little did we know …
Liest man sein Buch von damals nicht als Prophezeiung, sondern als eine Ode an den Moment, in dem eine bessere Welt im Bereich des Möglichen lag, so schlummert in den meisten von uns ein kleiner Fukuyama. Erst kürzlich wieder war Europa Fukuyama, als alle es noch für ausgeschlossen hielten, dass Russland in die Ukraine einmarschieren würde und Zivilistinnen und Zivilisten zum Ziel seines dreckigen, grausamen Krieges machen würde. Keiner dachte, dass die wunderschönen ukrainischen Städte binnen weniger Tage aussehen würden wie Aleppo nach zehn Jahren Krieg. Wie oft hat man gehört, Putin sei kein Imperialist oder dass er nicht so dumm wäre, bestimmte rote Linien zu überschreiten. An den Frieden gewöhnt, wurden wir Opfer unseres eigenen Wunschdenkens. Das Gehirn klammert sich eben oft an die Idee von der Welt, die es fassen kann, damit es schlafen, damit es weiterleben kann.
Doch gab es zu keiner Zeit einen Beweis dafür, dass wir mit unserer Annahme gegenüber Russland richtig lagen. Putin nahm sich die Krim, die folgenden Sanktionen scherten ihn einen feuchten Dreck. In Europa wurden schon Stimmen lauter, dass man die Annexion der Krim als unrevidierbares Faktum hinnehmen müsse und nach vorne schauen sollte. Christian Lindner fällt mir da ein. Man dachte wohl, wenn man den Russen die Krim gibt, dann sei Ruhe im Karton und man könne eine Beziehung aufbauen. Eine Rechnung, die man machte, ohne die Ukrainerinnen und Ukrainer zu fragen, was sie von dieser Appeasement-Idee hielten. Hätte man das getan, so hätte man gehört, dass unter gar keinen Umständen ein Territoriumsverlust hingenommen werden könne, denn wer Russland den kleinen Finger reicht, dem fehlt schnell nicht nur der ganze Arm, sondern auch ein Teil vom Brustkorb. Wir hätten sie nicht ernst genommen und uns auch gar nicht weiter mit der Frage belasten wollen, wer eigentlich dafür zuständig wäre, die Ukraine zu verteidigen, sollte diese angegriffen werden.
Immer mal wieder fuhr jemand wichtiges aus der Europäischen Union nach Moskau, um Putin in das schwarze Loch zu reden, das er anstelle eines Gewissens hat. Dachte irgendjemand von ihnen, er würde tatsächlich etwas bei ihm bewirken oder war es ausschließlich Show für die eigenen Wähler:innen daheim im Westen nach dem Motto: Wir haben es versucht, doch Herr Putin ließ sich nicht zur Demokratie überreden! Da haben wir jetzt den geopolitisch madigen, blutigen Salat.
In den USA nennen manche es “Europas 9/11”, weil sie denken, es wird der Moment sein, in dem sich unser ganzes Mindset ändert, die Art, wie wir Politik machen, was Sicherheit für uns bedeutet und welche Allianzen wir bauen. Ich bin da nicht so sicher. Europa hat die Angewohnheit, geopolitische Ereignisse als singuläre Phänomene zu behandeln, anstatt Muster zu erkennen und bereits beim ersten Tic-Tac-Toe-Spiel mit einem Autokraten die Tafel zu löschen und mit wem anderen neu zu beginnen. Immer wieder sitzt man dem Irrtum auf, die Ereignisse in der Welt schon irgendwie kontrollieren zu können, zumindest in dem Ausmaß, dass man im eigenen Land nichts knallen hört. Europa unterstützt seit Jahrzehnten politische Anführer, für die die europäischen Werte der liberalen Demokratie eine Art wildromantischer Hippie-Scheiß sind, denn wir glauben, sie kontrollieren zu können, indem unsere Kanzler ab und zu hinfahren und ihnen die Hand schütteln. „Stabilokratie“ heißt das im abwertenden Deutsch frustrierter z.B. Balkanexpertinnen und -experten.
Instabilokratie
Stabil ist an einer solchen Stabilokratie eigentlich überhaupt nichts. Stabil ist ein System mit starken unabhängigen Institutionen, die die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu verteidigen wissen und auch die Mittel dazu haben und die die Macht von politischen Anführerinnen und Führern im Interesse des Volkes begrenzen. So etwas woanders aufzubauen und noch dazu um unser eigenes Geld ist aber wahnsinnig anstrengend und erfordert den Mut, sich auf Entwicklungen einzulassen, die real betrachtet wahrscheinlich auch nicht weniger planbar sind, als die narzisstischen, kleptokratischen Powertrips von jenen Autokraten, die wir für stabil halten.
Es macht mir Angst, dass der Ukraine-Krieg uns nicht mehr Angst macht. Wieso ist dieser Moment nicht DER Turning Point, den vernunftbegabte Expertinnen und Experten seit Jahrzehnten einfordern? Was jetzt passieren sollte ist doch die Abkehr von der Idee: “He may be a son of a bitch, but he is our son of a bitch”. Es hätte nicht passieren dürfen, dass etwa Macron und Nehammer noch vor den Wahlen nach Serbien fuhren und sich dort mit Vučić ablichten lassen.
Seit Jahren sind etwa Viktor Orbán und Aleksandar Vučić, aber auch Milorad Dodik mit Putin im Bett. Man sollte meinen, jetzt, da Putin im großen Stil Ukrainerinnen und Ukrainer abschlachtet und ihr Land dem Erdboden gleich macht, sollten ihnen diese Freundschaften doch zum Ungemach gereichen, oder nicht? Das Gegenteil ist der Fall. Sowohl Orbán als auch Vučić konnten den Ukraine-Krieg für ihren Wahlkampf nutzen. Sie seien für den Frieden und neutral sagten sie. Milorad Dodik, der seit Jahren sein Möglichstes tut, um jedes Stück Fortschritt in Bosnien und Herzegowina sofort zu attackieren lebt relativ unbehelligt von unseren europäischen Werten in seinem von Russland möblierten Reich.
Und wieder sind wir Fukuyama. Der Balkan ist schon so oft durch die Hölle gegangen, dass wir – je nachdem, was wir immer schon geglaubt haben – entweder davon ausgehen, dass ein Wiederaufheizen dieser Hölle absolut unmöglich oder dass es unausweichlich ist. Dabei ist keines von beiden der Fall. Wem am Frieden etwas liegt, der sollte jeden Tag fürchten, ihn zu verlieren und die Gefahr eines Krieges niemals als alarmistisch abtun.
Der Balkan ist als nächstes dran
Vor wenigen Wochen saß ich in einer Runde europäischer Sicherheitsexperten, die einen Professor der Johns Hopkins University in DC mit Verweis auf die Ukraine fragten: “Ist der Balkan als nächstes dran?” In politischen Kreisen ist es heutzutage vielen peinlich, eine potenziell katastrophale Entwicklung als das zu fürchten, was sie ist. Abstumpfung und Zynismus sind das neue lässig. Weil aber eben dieser Professor sich seit vielen Jahrzehnten mit der Welt beschäftigt, ist er klüger als die Lässigen: “Absolut. Der Balkan ist als nächstes dran”, sagte er. Danach zeigte er die Parallelen in der Rhetorik von Vučić und Putin auf, wie Vučić sich nicht der “Präsident von Serbien” nennt, sondern der “Präsident der Serben” und so weiter.
Wer keine Ahnung von der Region des Westbalkan hat und kein Herz für sie mag keine Hoffnung für diesen wunderschönen, interessanten, liebevollen und so schwer gezeichneten Teil Europas haben. Wer ihn aber gern hat, der sorgt sich immer um ihn und hofft jeden Tag auf seine Genesung. Doch von allein passiert das nicht. Ich fürchte die menschlichen Abgründe, die dazu führen, dass Menschen mit auf den Rücken gefesselten Händen in Massengräbern landen. Niemals werde ich aufhören, diese Dunkelheit zu fürchten. Es scheinen meistens nur wenige Tage zu sein, die es braucht, um die Menschlichkeit zu begraben. Lang ist dagegen die Zeit, die ein Land braucht, um solche Wunden verheilen zu lassen, falls das überhaupt möglich ist.
Jede Hölle nimmt irgendwo ihren Ausgang. Gerade noch gibt es Gespräche, Kooperation und Handel mit einem Staat, dessen Regierung der Respekt vor der Menschenwürde, den Menschenrechten, der Demokratie abhanden gekommen ist oder bei der sie nie auf dem Plan standen. Dann wird es Dienstag, Mittwoch, man geht Lebensmittel einkaufen, Donnerstag, Freitag, nochmal einkaufen und plötzlich sieht man Nachrichten und Unverzeihliches ist passiert.
Kleine Autokraten, die ihr Volk bestehlen und die EU verarschen sind ein gravierendes Problem, aber noch lange keine Kriegsverbrecher, aber jede Hölle fängt irgendwo an – meist nicht weit von dort entfernt, wo man beginnt, Menschenrechte mit Füßen zu treten. Ich wünsche mir, dass europäische Leader Autokraten den Handschlag verweigern. Stattdessen sollen sie mit jenen die Bühne teilen, die aufrichtig daran arbeiten, dass Fukuyama am Ende doch noch recht bekommt und liberale Demokratie möglichst überall und immer wieder siegt.
Morgen ist ein neuer Tag
Die Wahlzettel in Ungarn und Serbien werden gerade ausgezählt und wenig überraschend werden Putins Freunde Orbán und Vučić in wenigen Stunden wieder gesiegt haben. Von ganzem Herzen wünsche ich mir, dass kein einziger europäischer Politiker, keine Politikerin ihnen dazu gratuliert. Vielleicht könnte sogar jemand bedauern, dass den beiden Ländern noch kein Neustart vergönnt war. Das wäre doch einmal was. Denn morgen ist der erste Tag der Wahl, der traditionell den Countdown auf die nächste Chance beginnt, dass das ihr letzter Sieg war.
Es ist nicht an uns, Regimewechsel in anderen Staaten zu fordern oder herbeizuführen. Nicht wir entscheiden, wer in unseren Nachbarländern oder anderswo auf der Welt gewählt wird. Aber es ist auch nicht so, als könnten wir gar nichts tun, um demokratische Kräfte besser zu unterstützen und zu zeigen, dass sie den besseren Deal mit der EU bekommen können, der am Ende zu einem besseren Leben für alle führt.