Meine neue berufliche Orientierung bringt mit sich, dass ich mich dieses Jahr viel mit dem Begriff „Fundamentals“ auseinandersetze. Das heißt so viel wie „Grundlagen“, wobei ich es für mich mit „das Wesentliche“ übersetze. Seit Corona wissen wir angeblich, was wirklich wichtig ist im Leben. Wir merken, was wir am meisten vermissen, was auf einmal schwierig zu organisieren ist, ohne wen man nicht kann, wer nicht ohne einen kann und dass vielleicht doch alles wurscht ist, wenn man nicht gesund ist.
Über Jahre hinweg fragte der US-amerikanische Surferdude Foster Huntington: „If your house suddenly caught on fire, what would you grab as you fled out the door?“ Auf seinem Tumblr Burning House Project sammelte er die Fotos, die er als Antwort darauf erhielt. Oft war darauf ein Reisepass zu sehen, Familienfotos, Musikinstrumente, mit der Zeit immer mehr MacBooks und teure Kameras, aber eben auch anderes, schrulligeres Zeug. Zerknautschte Kuscheltiere, die Brille des verstorbenen Großvaters, Schusswaffen, ein Gameboy. Schon lange denke ich darüber nach, was ich mitnehmen würde, wenn meine Wohnung in Flammen stünde.
1 Hula Hoop Reifen
1 „Gräf und Stift“-Löwe, dessen Platz einst auf der Kühlhaube des Lastwagens war, den mein Großvater fuhr. Ich fragte den Opa einmal, was das ist und er hat gesagt: „Der Gräf und Stift-Löwe“ und ihn mir geschenkt. So wurde festgelegt, dass der Löwe und ich zusammengehören.
3 Fetzenpuppen, die meine Mutter gemacht hat, um mich abzulenken, als ich als Kind zum tausendsten Mal Ohrenschmerzen hatte, Modelle Zauberer, Hexe, Prinzessin; Es freut mich, dass die Obskuren hier in der Überzahl sind und die Pupperldiktatur der Welt in die Schranken weisen.
1 Malkasten, ein paar schwarze Stifte und Zeichnungen aus einer schlechten Zeit
1 Reisepass; nicht, weil man den nicht neu machen könnte, aber weil die Worte „Europäische Union“ darauf etwas für mich bedeuten
1 Mundharmonika, die ich nicht spielen kann, aber eines Tages …
1 Zigarettenetui meiner Mutter, die am Tag ihres Schlaganfalls zu rauchen aufgehört hat
1 Kartonstreifen, den der Generalsekretär der NEOS auf dem Schreibtisch hinterließ, welchen ich bei meinem Dienstbeginn im Parlamentsklub von ihm erbte. Darauf steht: „Furcht tut nichts Gutes. Darum muß man frei und mutig in allen Dingen sein und feststehen.“ Ein Zitat von Martin Luther.
1 kleines schwarzes Plastikpferd, eine Playmobil-Robbe mit beweglichem Oberkörper, ein oranges Kind aus Plastik, ein winziger Liegestuhl und ein kleiner Plastikwagon eines Zuges. Der Wagon trug einst eine von sechs Geburtstagskerzen, die auf diesem Zug durch den Kuchen fuhr, den mein Vater mir gebacken hatte. Der Wagon ist der einzige der sechs, der nicht verlorengegangen ist und ist seit Jahren und über jeden Umzug hinweg in der Gesellschaft genau jener anderen seltsamen und nicht zusammenpassenden Dinge. Ich weiß nicht, warum und ich trenne sie deshalb auch nicht. Es wird schon irgendeine Art Gremium sein.
1 Muschel, die meine ältere Schwester mir vom Meeresgrund vor Formentera aufgetaucht hat
4 Steine, die meine Freundin Veronika aus Afghanistan mitgebracht hat
1 Ring von Oma, der ausschaut wie eine Schneeflocke
1 Lieblingsbuch; „Love is a Mixtape“ von Rob Sheffield
1 Punk-Ikone „Krautstiffs“, die ein ausgeflippter, weltbereisender Buchhändler in Belgrad selbst gemacht und mir geschenkt hat, nachdem ich versehentlich in seine geheime Handlung geraten bin, mit ihm getrunken und Musik gehört habe und darüber geredet habe, dass alles Individuelle langsam zugrunde geht (auch wir), während draußen das Gewitter des Jahrzehnts niederging.
1 Schachtel mit uralten Fotos vom kleinen Bausteinwerk, das meine Großeltern betrieben haben und um die sich meine Familie seit Jahren streitet, weil die Erinnerung an meine larger than light Großeltern das Wertvollste ist, was wir besitzen.
Das sind die materiellen Dinge, die gerettet werden müssen.
Und die nicht materiellen Dinge? Jetzt, da uns diese Corona-Situation beschäftigt, kommt mir die Aufgabenstellung „Leben mit Corona“ ganz ähnlich vor wie jene des Burning House Projects. Was sind die wesentlichen Dinge, die ich aus meinem Leben vor Corona unbedingt behalten will und auch auf dem Schwarzmarkt verbotener Taten und geheimer Wünsche kaufen würde? Wer ist in meinem Leben das kleine schwarze Plastikpferd, ohne das sich in der Früh das Aufstehen meistens nicht lohnt?
Mit einem dieser Plastikpferde saß ich vor gar nicht langer Zeit auf einer Parkbank, so weit entfernt von einander, wie das jetzt geboten ist. Es ist nicht immer alles einfach mit uns, aber am schwierigsten war es, den Reflex zu unterdrücken, ihm die Hand auf die Schulter zu legen, während ich gerade irgendein eindringliches Argument anbrachte oder wenn es herzlich über meine Zeichnungen lachte. Im Fenster von Walter Luxens Buchhandlung auf der Josefstädter Straße steht ein Kinderbuch, das heißt: „Ohne dich, das geht doch nicht.“ Wahrscheinlich liegt die Betonung auf „geht“, aber ich habe sie gleich auf „doch“ gelesen, weil mich die Erkenntnis grade so beschäftigt hat, dass es eben doch nicht so richtig geht ohne manche schwarze Plastikpferde, von denen man gar nicht weiß, wie das passiert ist, dass sie so einen sicheren Platz bei einem haben. Die kleine Geste, wem über den Arm zu streichen oder die Hand auf die Schulter zu legen, gehört also dringend gerettet. Das rettet dann auch viele anderen Dinge per Dominoeffekt und schützt vor Streit, Missverständnissen und bösen Worten.
Ansonsten sagte einer meiner Lieblingsmenschen dieser Tage sehr traurig, er würde gerne wieder mit Freunden zusammensitzen und das, ohne ein schlechtes Gewissen dabei zu haben. Ich möchte also das für ihn retten. Zusammensitzen um Krügerln oder halbe Liter Spritzer, ohne dass man sich schuldig und verantwortungslos fühlt. Auf das freue ich mich natürlich auch schon sehr, aber zuerst rette ich es für ihn, wenn ich kann. Damit er nicht mehr traurig ist.
Ein anderer Freund hat drei Kinder. Drei. Kinder. Er antwortete gestern auf meine Frage, was die so machten, wenn keine Schule ist: „Mindestens einmal alles. Über den Tag verteilt. Und das mal drei.“ Für ihn rette ich Zeit, die er normalerweise kurz gewinnt, wenn die wunderbaren Teufelstöchter in der Schule sind, damit es um ihn für einen Moment lang einfach nur leise ist.
Für meine schwangere Freundin aus der Peripherie soll es eine normale, sichere Geburt im Spital geben, bei der auch ihr Mann dabei sein darf, ohne dass sie Ansteckung fürchten müssen. Und sie sollen den besten aller Namen für den Neuankömmling finden, damit er sich im Leben behaupten kann.
Und meiner Familie rette ich all ihre Jobs und alle ersten Momente, die wir gerade mit meinem im vergangenen Februar geborenen Neffen verpassen. Freue mich schon, wenn er alt genug für wichtige Lyrik ist: „Der Pferd. Er hat drei Beiner. An jeder Ecken einer. Und wenn er nicht drei Beiner hätt, er umfallen tät. Der Pferd.“
Am Sonntag radle ich jetzt immer zu Ernst Molden, der von seinem Balkon eine Handvoll Lieder trällert, um uns alle aufzuheitern. Letzten Sonntag stand vor mir ein Typ in einem Lagwagon Hoodie (Woher hat man überhaupt 2020 noch einen Lagwagon Hoodie?) und weinte fast. Ich kenne das, ich weine ja nämlich fast immer bei Ernst Molden und noch mehr bei Willi Resetarits, weil jedes Lied meine wunderbare Heimatstadt zeichnet, als würde man kopfüber in das Herz von Wien stürzen. Ernst Molden und Willi Resetarits rette ich auch, falls die sich nicht ohnehin selbst retten. Es kann ja nicht alles Retten selbstlos sein. Und eine bessere Art, das Wien, das ich liebe gänzlich vor diesem speziellen Corona-Feuer in Sicherheit zu bringen, fällt mir auch nicht ein.
Dabei geht es uns eh allen vergleichsweise gut, aber es darf einem trotzdem manchmal nicht gut gehen in so einer Pandemie.
So viel kaputt
Aber so vieles nicht
Jede der Scherben
Spiegelt das Licht …