Die Region des Westbalkan ist ein Schwerpunkt der österreichischen Außenpolitik und ein zentraler Aspekt der österreichischen Sicherheitspolitik. Das gilt für gewöhnlich, egal wer gerade in der Regierung ist. Die schwarz-grüne Regierung, die 2020 angelobt wird, scheint dabei keine Ausnahme zu sein.
Platz hat der Westbalkan im Regierungsprogramm auf den ersten Blick eine Menge. Ein ganzer Unterpunkt im EU-Kapitel beschäftigt sich fast ausschließlich damit. Aber was bedeutet es genau, was da steht? Wer keine Geduld hat, kann auch nur den letzten Absatz lesen.
Unsere alte Liebe „Beitrittsperspektive“
„Umsetzung einer klaren EU-Beitrittsperspektive für die Westbalkan-Staaten
o Beitrittsverhandlungen sollen ohne Verzögerungen eröffnet bzw. vorangetrieben werden, wenn die entsprechenden Kriterien durch die jeweiligen Staaten erfüllt sind. Überlegungen zu neuen Methoden dürfen diesen Prozess nicht behindern.
o Österreich spricht sich für den ehestmöglichen Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien aus.
o Österreich wird die Westbalkan-Staaten auf ihrem europäischen Weg weiterhin aktiv unterstützen einschließlich bei der Lösung bilateraler Konflikte.“
Die „Beitrittsperspektive“ ist ein Buzzword der EU-Erweiterungsolitik, das zunehmend an Bedeutung verliert, auch wenn es manchmal mit den Adjektiven „konkret“ oder wie in diesem Fall „klar“ daherkommt. Dieses Vokabular gehört in die Zeit der „Agenda von Thessaloniki“ (Abschlussdokument des EU-Westbalkan-Gipfels 2003). Darin steht: „Die EU bekräftigt, dass sie die europäische Ausrichtung der westlichen Balkanstaaten vorbehaltlos unterstützt. Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union.“
Diese Worte sind heute nicht mehr so frisch wie damals und haben stark an Glaubwürdigkeit verloren. In vielen Ländern des Westbalkans sinkt die EU-Zustimmung und das Vertrauen, dass sie jemals Teil der Europäischen Union sein werden (in Bosnien denken 39%, dass der Beitritt nie passieren wird, in Serbien 32). Die Entwicklung der Region gestaltete sich in vielerlei Hinsicht enttäuschend für EU und Westbalkan. Erwartete Fortschritte traten nicht ein, sei es aus Unvermögen, fallweise mangelnder oder falscher Unterstützung oder aufgrund von politischen Eliten, die es verstanden, den Beitrittsprozess zu ihrem persönlichen Vorteil statt zum Vorteil ihres Landes zu nutzen.
Die Union (und auch Österreich) wiederholt immer wieder, man wolle „Beitrittsperspektiven stärken“, was weder besonders gutes Deutsch ist, noch klärt, was genau passieren soll. In diesem Programm ist es wohl so zu deuten, dass die offizielle österreichische Position weiterhin sein wird, dass Österreich den Beitritt der Westbalkanstaaten unterstützen wird, sofern diese die Beitrittskriterien erfüllen. Das ist aber dann auch schon des Pudels Kern, denn die Frage, die aktuell Europa bewegt, ist, welche Maßnahmen man setzen soll, damit die betreffenden Staaten diese Kriterien erreichen und zwar schneller als bisher, da uns der zunehmende Einfluss von anderen Mächten wie Russland, der Türkei, China und arabischen Staaten auf dem Westbalkan etwas nervös macht. Auf diese Frage hatte schon die vorige Regierung keine konkreten Antworten und auch dieser dürfte das schwer fallen.
„Überlegungen zu neuen Methoden dürfen diesen Prozess nicht behindern.“
Das bedeutet nur, dass Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien geführt werden sollen, während der Erweiterungsprozess reformiert wird und man diese beiden Staaten nicht auf eine Reformeinigung warten lässt. Das ist absolut sinnvoll.
Beitrittsgespräche Nordmazedonien und Albanien
Dass Österreich sich in diesem Regierungsprogramm für den ehestmöglichen Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien ausspricht, ist eine gute Sache, die der gewöhnlichen Rolle Österreichs als Fürsprecher der Westbalkanstaaten in der Europäischen Union gerecht wird. Gut, man hätte hier konkreter sein können und hineinschreiben, man möchte, dass die EU-Mitgliedstaaten beim nächsten Europäischen Rat einen Termin für den Beginn der Gespräche setzen, aber grundsätzlich gibt es aktuell keinen Grund, daran zu zweifeln, dass Österreich sich genau dafür einsetzen wird. Beide Staaten haben Großes geleistet, um Beitrittsgespräche aufzunehmen zu können.
Die Hauptkritik an all diesen Maßnahmen, die man haben könnte, ist, dass das alles sehr wenig konkret ist. Österreich unterstützt zwar durch ganz unterschiedliche Maßnahmen in vielen politischen Bereichen die Westbalkanstaaten, doch fehlt eine ressortübergreifende Gesamtstrategie mit klaren Wirkungszielen. Gleichzeitig täte dem Regierungsprogramm ein Bekenntnis zur Partnerschaft mit den Bürger_innen der Westbalkanstaaten statt mit politischen Eliten gut. Eine Formulierung wie „Korruptionsbekämpfung, Initiativen zum Aufbau der Rechtsstaatlichkeit, Null-Toleranz-Politik bezüglich Verletzung von Pressefreiheit, Menschen- und Minderheitenrechten“. Das wäre zwar nicht sehr diplomatisch und man hat es vermutlich gerade deshalb nicht gemacht, weil man als Fürsprecher des Balkans nicht auch noch seine Schwächen hervorstreichen will, doch wäre dem Fortschritt möglicherweise besser gedient, wenn man klare Worte fände.
Bemühungen um den Kosovo
„Aktive Unterstützung des Belgrad-Pristina-Dialogs zwischen Serbien und Kosovo
o Laufender Dialog mit den Staaten des Westbalkans (u.a. durch intensiven Austausch der Parlamente inklusive des Konzepts der Demokratiewerkstatt, Unterstützung von Veranstaltungen)
o Weitere Bemühungen für die Visa-Liberalisierung für Kosovo“
Alles sinnvoll. Der erwähnte Austausch der Parlamente etc. ist ein von der Ersten Stiftung finanziertes Programm des Österreichischen Parlaments, bei dem es um einen Beamtenaustausch geht. Gleichzeitig ist das Österreichische Parlament bestrebt, die „Demokratiewerkstatt“, die parlamentseigene Einrichtung zur politischen Bildung in die Westbalkanstaaten zu „exportieren“. Das ist in manchen Staaten einfacher als in anderen. Die aktuellen Regierungsparteien in Serbien und Montenegro pflegen einen Umgang mit dem Parlament, der es schwer macht, sich vorzustellen, dass Vergleichbares zur Demokratiewerkstatt sinnvoll umgesetzt werden könnte. In anderen Staaten ginge das einfacher, wird aber von der Eigeninitiative der Parlamente in der Region abhängen.
Die Visa-Liberalisierung für den Kosovo ist ein gebrochenes Versprechen der EU. Einige Stimmen auch von Beamten, die für die Abwickelung der Ratspräsidentschaft zuständig waren, sagen, es sei auch ein Versagen der österreichischen Ratspräsidentschaft gewesen, dass dieses Versprechen nicht gehalten wurde. Jedenfalls ist es höchste Zeit, dass das nachgeholt wird oder man hätte es dem Kosovo nie versprechen dürfen. Mögen die „Bemühungen“ diesmal erfolgreich sein.
Das Bundesheer auf dem Balkan
„Das ÖBH wird lagebedingt die Entsendung von mindesten 1.100 Soldaten als Dauerleistung für Auslandseinsätze sicherstellen, bei ausreichender budgetärer Bedeckung, sowie Sicherstellung der für diese Auslandseinsätze im Rahmen des Krisenmanagements notwendigen Kapazitäten (Personal, Material, Betrieb)“
Diese Maßnahme betrifft hauptsächlich Bosnien und Herzegowina und den Kosovo, wo der Großteil der österreichischen Soldat_innen im Auslandseinsatz stationiert ist. 2019 wurde bereits eine Reduktion des österreichischen Kontingents bei multinationalen Kosovo-Truppe der NATO (KFOR) beschlossen. Das hat vorwiegend mit der prekären budgetären Situation des Österreichischen Bundesheeres zu tun.
„Fortführung des Beitrags des ÖBH zur Stärkung der Stabilität der Westbalkan-Staaten“
Was macht das Österreichische Bundesheer denn noch auf dem Balkan, das fortgeführt werden kann? Einiges! So absolvieren zum Beispiel jährlich einige Offiziersanwärter aus Bosnien und Herzegowina ihre Ausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Auch in der Region selbst bringt das Bundesministerium für Landesverteidigung sich im Bereich der gemeinsamen Ausbildung von Offiziersanwärter_innen aus fünf Westbalkanstaaten tatkräftig ein. Das Verteidigungsministerium pflegt außerdem einen guten Austausch mit den Verteidigungsminister_innen der Westbalkanstaaten, der durchaus im Sinne von zunehmender Kooperation und Stabilität in der gesamten europäischen Nachbarschaft ist. Das alles sind Leistungen des Verteidigungsressorts, über die selten gesprochen wird, wenn es um die Aufstockung des Budgets geht. Sollte man vielleicht ändern.
Tagesaktuelles Interesse ist besser als leere Worte
Insgesamt ist der Balkan-Teil im Programm also nicht wahnsinnig visionär und konkret, aber solide. Was viel wichtiger ist als der Wortlaut im Programm, ist, wie die neue Regierung sich gegenüber den Amtskolleg_innen in der Westbalkan-Region verhalten wird. Es ist auch und gerade die Aufgabe Österreichs, Missstände konstruktiv zu kritisieren. Es kann nicht sein, dass in Serbien ein Großteil der Opposition die Wahlen 2020 boykottiert, weil die Bedingungen dafür undemokratisch sind und kein_e europäische_r Regierungschef_in dazu ein Wort verliert. Der kontinuierliche Verlust an Pressefreiheit und das Targetten von Journalist_innen durch Regierungskräfte (besonders in Serbien, und in Montenegro) sind ein Thema, über das auch Österreich sprechen sollte. Wir sollten bei solchen Angelegenheiten sofort beim Verstoß kritisieren und eine konkrete Hilfeleistung anbieten, die schwer abzulehnen ist. Der Balkan macht auch deshalb so geringe Fortschritte, weil sich die Mitgliedstaaten der Union tagesaktuell nicht ausreichend für ihn interessieren. Ändern wir das und wir werden das Leben vieler Menschen verbessern. Auch unser eigenes.