Das Schreiben eines politischen Programmes – egal ob Wahlprogramm, neue Migrationsstrategie oder Regierungsprogramm – kann zermürbend sein. Man ist selten von so vielen Menschen unterschiedlich ausgeprägter Expertise umgeben, wie wenn man auf einen Zettel aufschreiben soll, wie etwas politisch verändert werden soll. Natürlich haben auch noch einige einander widersprechende Interessen und jeder möchte am liebsten seine eigene Formulierung im Programm lesen. Und alle haben recht.
Man glaubt vielleicht, es geht beim Verfassen eines solchen Textes darum, sich auf Inhalte zu einigen, also eine gemeinsame politische Position. Meist ist der Hauptschmäh aber eher der, dass man eine Formulierung findet, die alles heißen kann und in die jeder politische Partner, jede Stakeholdergruppe, ja sogar der einzelne Wähler hineinlesen kann, was er hören möchte oder gegenüber irgendjemandem vertreten muss. Hinzu kommt, dass man schon im Regierungsprogramm sicherstellen muss, dass gewisse Versprechen am Ende der Gesetzgebungsperiode erfüllt sein werden, auch wenn ab diesem Moment einfach alles schief geht. Im worst case natürlich. Did someone say Ibiza?
Es gibt Anfängertricks wie etwa die besonders nebulöse Formulierung eines Versprechens. So etwas wie „Zentren zur Unterbringung und Identitätsfeststellung von Flüchtlingen/Hot Spots an den EU-Außengrenzen“ kann — je nachdem, was man hören möchte — entweder heißen „auf EU-Boden“ oder „außerhalb der EU-Außengrenzen“. Solange keiner die Box aufmacht und fragt, ist schrödingerhaft simultan beides gemeint.
Aber es gibt noch viel mehr! Die Trickkiste des Programmschreibens anhand des Europa- und Außenpolitik-Kapitels des neuen Regierungsprogramms der ÖVP und der Grünen:
- Erfinden Sie etwas, das es schon gibt.
Ideal ist, wenn Ihre Erfindung nicht nur bereits existiert und alle damit einverstanden sind, sondern sie auch gut funktioniert. Kenner werden sofort durchschauen, dass es nicht Ihre Idee war, doch niemand wird ihnen zuhören, wenn sie erklären, dass Ihre Erfindung bereits in Paragraph XY oder in EU-Verordnung XYZ geregelt ist. Ziehen Sie anschließend einige Zeit später Bilanz und weisen auf Ihren Erfolg hin. Was Sie versprochen haben existiert! Sie können also nur alles richtig gemacht haben.
Ein Beispiel dafür ist die Subsidiarität im EU-Kontext. Für alle, die nach Jahren des Herumfuchtelns mit dem Subsidiaritätszauberstab durch die ÖVP noch immer nicht wissen, was das ist: Das Subsidiaritätsprinzip besagt ganz grob, dass bezüglich der Kompetenzenverteilung zwischen EU und einzelnem Mitgliedstaat die Regel gilt: Fällt ein politischer Bereich nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Union, so wird die EU in diesem nur dann tätig, wenn die Union die Aufgabe besser erfüllen kann. Es gibt außerdem ein ausgefeiltes System zur Kontrolle dieser Regel und zur Verhinderung von Verstößen. Klingt komplett logisch und als müsse man nicht dauernd darüber reden? Jo eh.
Dennoch ist Subsidiarität auch im Regierungsprogramm 2020 schon wieder Thema. Da steht nun: „Daher braucht es einen konsequenten Einsatz auf europäischer Ebene für das Grundprinzip der Subsidiarität im Sinne einer effizienten Aufgabenverteilung zwischen Mitgliedstaaten und der Europäischen Union.“ In ein paar Jahren kann man dann zurückschauen und behaupten, nur wegen des fortwährend engagierten Einsatzes der Bundesregierung sei es zu keiner Entreißung von Kompetenzen durch die Union gekommen.
Zusammengefasst: Sebastian Kurz hat nicht die Subsidiarität erfunden. Die Subsidiarität hingegen behauptet, sie hätte Sebastian Kurz erfunden. The jury is still out on that one.
2. Geben Sie ein Bekenntnis zu etwas ab, zu dem Österreich sich international ohnehin längst verpflichtet hat oder „stärken“ Sie irgendwas.
„Österreich engagiert sich im Rahmen der permanenten strukturierten Zusammenarbeit der EU (PESCO) und des „Civilian Compact“ unter anderem für Projekte zur zivilen Krisenprävention und Konfliktlösung.“ Durch unsere Teilnahme an dieser strukturierten Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich haben wir uns dazu bereits verpflichtet. Übrigens auch zu einer gewissen finanziellen Investition in diesem Bereich, von der allerdings niemand spricht.
„Stärkung der Rolle Österreichs als Vermittler in internationalen Konflikten im Sinne einer aktiven und engagierten Friedensdiplomatie“ klingt hervorragend. Wie will man das machen? Man könnte zum Beispiel das Außen-Ressort mit einem anständigen Budget ausstatten (die haben nämlich noch weniger als das Verteidigungsministerium). Davon ist allerdings in diesem Programm keine Rede.
3. Bekennen Sie sich zu einem Ziel statt zu dessen Erreichung.
Ein solides Beispiel dafür ist das Versprechen, die Mittel für die österreichische Entwicklungszusammenarbeit auf 0,7% des Bruttonationaleinkommens anzuheben, wie es dem UN-Ziel entspricht, dessen Erfüllung Österreich schon vor vielen Jahren versprochen hat.
2017 stand im Programm von ÖVP und FPÖ: „Bekenntnis zu einer stärkeren Hilfe vor Ort sowie zum langfristigen Ziel, die EZA auf 0,7% des BIP zu erhöhen, verstärkte Koppelung an die Bereitschaft von Drittstaaten zur Kooperation bei der Rücknahme abgelehnter Asylwerber“. Karin Kneissl fragte irgendwann völlig verwundert mitten in einem Ausschuss ihre Sektionschefin, warum es noch keinen Stufenplan zur Erreichung des Ziels gäbe, lernte aber dann schnell, darauf hinzuweisen, es sei ein langfristiges — an guten Tagen ein mittelfristiges — Ziel. In Folge wurden die Mittel sogar reduziert und lagen Ende 2018 bei 0,26 Prozent des Bruttonationaleinkommens Österreichs.
Also dann, auf ein Neues! Auch im neuen Regierungsprogramm von Schwarz und Grün steht: „Wir bekennen uns darüber hinaus zum Ziel, die finanziellen Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen.“ Merke: Das Versprechen lautet NICHT: „Wir werden die finanziellen Mittel für Entwicklungszusammenarbeit erhöhen“, sondern „wir bekennen uns zum Ziel“.
4. Listen Sie Dinge der Kategorie „Das ist ja wohl das Mindeste, was man von einer Regierung erwarten können sollte“ auf, damit das Programm voller wird.
„Aktiver und vorausschauender Informationsaustausch der Koalitionspartner im Hinblick auf zentrale Entscheidungen auf EU-Ebene. In diesem Sinne Stärkung der EU-Koordinationsfunktion des Bundeskanzleramtes zur Gewährleistung einer einheitlichen österreichischen Europapolitik.“ Übersetzung: Die Regierungsparteien stimmen sich bezüglich EU-Fragen miteinander ab, bevor ein Gwirks rauskommt. Danke, liebe Regierungsparteien.
„Professionelle konsularische Serviceleistungen für alle Österreicherinnen und Österreicher im Ausland sollen weiterhin nachhaltig gewährleistet werden können, insbesondere auch für Betroffene des Brexit (abhängig von der Form des Brexit).“ Ganz eindeutig ein „Das ist ja wohl das Mindeste“-Kandidat.
„Für die humanitäre Hilfe Österreichs wird eine Strategie mit Zielen und Zuständigkeiten erstellt.“ DAS GIBT ES NOCH NICHT? Oder erfindet ihr hier schon wieder etwas, das es schon lange gibt?
5. Versprechen Sie Engagement für etwas, dessen Misserfolg nicht (alleine) Ihnen angelastet werden kann, am besten ohne konkrete Vorgehensweise.
„Einsatz Österreichs für Bürokratieabbau auf europäischer Ebene und eine Verschlankung der europäischen Institutionen mit dem Ziel einer Verkleinerung der EU-Kommission bei gleichzeitiger Einführung eines fairen Rotationsprinzips“
Die Verkleinerung der Europäischen Kommission war auf EU-Ebene bereits ausgemacht, dann hat man das aber doch nie gemacht. Warum? Weil dann nicht mehr jeder Mitgliedstaat in jeder Periode eine_n Kommissar_in stellen würde, sondern einem Rotationsprinzip folgend, nur abwechselnd. Eigentlich sollte das wurscht sein, weil die europäischen Kommissarinnen und Kommissare absolut nicht die Aufgabe haben, die Mitgliedstaaten zu vertreten, sondern die Interessen aller Bürgerinnen und Bürger der EU, aber so sehen das halt die Mitgliedstaaten nicht.
Die Forderung nach Verkleinerung der Kommission ist nach Meinung quasi aller absolut sinnvoll, ABER damit es soweit kommen kann, müsste einmal jemand voraus gehen und in der ersten Runde auf seine_n Kommissar_in verzichten und sich Partnerstaaten suchen, die dasselbe anbieten. Vielleicht bringt das auch nichts und Staaten weigern sich weiterhin. Versucht wurde das jedenfalls noch nicht. Wäre Österreich dazu bereit? Wenn ja, warum steht das nicht in diesem Programmpunkt? Falls es jedenfalls in dieser Legislaturperiode nicht passiert, kann Schwarz-Grün einfach sagen: „Wir wären dazu bereit gewesen, leider gab es dafür keine Mehrheit.“
6. Füllen Sie pro Unterkapitel mindestens eine halbe Seite mit einem Lamento über ein eh allen bekanntes Problem.
Das ist zwar an sich noch keine Maßnahme, aber somit steht zumindest irgendwas in diesem Programm, das der Meinung aller nach der Realität entspricht, selbst wenn die Menschen mit der Lösung des Problems, die Sie dann vielleicht doch noch irgendwann anbieten, nicht einverstanden sind. Gute Textbausteine dafür: „Herausforderungen unserer Zeit“, „es braucht mehr Kooperation“, „effektiver und effizienter“. Wenn man die Sorte „Ich habe immer gesagt“-Politiker ist, kann man dann auch später darauf verweisen, dass man das Problem schon ganz früh erkannt hat, völlig egal, ob sowieso eh jeder davon wusste und das keine besonders originelle Leistung war.
Das Lamento schließt traditionell mit einem hochtrabenden Bekenntnis, das klingen muss, als läse man es auf einem Balkon stehend dem Volk vor. Ein Meisterstück des neuen Regierungsprogrammes diesbezüglich ist der Satz: „Als Bundesregierung bekennen wir uns deshalb dazu, den Weg einer aktiven Europa- und Außenpolitik weiterzugehen und auch in Zukunft die österreichischen Interessen zu vertreten und unsere Lösungskonzepte zu den großen Fragen unserer Zeit auf globaler wie auf EU Ebene einzubringen, um gemeinsame Lösungen zu erarbeiten.“
Der Satz bedeutet exakt gar nichts. Die Bundesregierung bekennt sich dazu, zu machen, wofür sie da ist, nämlich die österreichischen Interessen vertreten bzw. „Lösungskonzepte einzubringen, um gemeinsam Lösungen zu erarbeiten“. Alright then. Nazar würde euch Poeten eloquenztechnisch heimleuchten.
Eine kleine Lesehilfe
In diesem Programm stehen Versprechen, die Sie gut und welche, die Sie schlecht finden werden. Wichtig für diese Bewertung ist, dass klar ist, was überhaupt das Versprechen ist.
Mein Vorschlag zur Lektüre des Regierungsprogramms ist also: Interviewen Sie jedes Versprechen darin. Fragen Sie es, wann es umgesetzt werden soll und durch wen und durch welche finanziellen Mittel. Fragen Sie, was es bedeutet und was laut jedem einzelnen Punkt passieren soll. Soll überhaupt etwas passieren? Wenn Sie im Programm darauf keine Antwort finden, fragen Sie die Regierungsparteien auf öffentlichen Veranstaltungen, per Mail, Telefon, per handgeschriebenem Brief, Fax und allem, was Ihnen einfällt. Diese Menschen werden durch Ihr Steuergeld bezahlt und arbeiten für Sie. Sie schulden Ihnen Antworten über alles, was sie tun. Und außerdem lieben politische Parteien Bürger_innenpost.