In der EU wird wieder mehr über die Westbalkan-Erweiterung gesprochen. Montenegro, Serbien, Albanien, Nordmazedonien, Bosnien und Herzegowina und der Kosovo sollen irgendwann – wenn es nach manchen Politiker_innen geht – „so bald wie möglich“ Teil der Union sein. Oberflächlich betrachtet klingt das gut, doch sind wir als EU in dieser Debatte nicht immer ehrlich zu uns selbst. Wir reden mit jemandem übers Zusammenziehen, mit dem wir gerade ein paar Mal geschmust haben. Das ist weder sinnvoll noch notwendig.
Welches Land der Westbalkan-Region ist im EU-Beitrittsprozess am weitesten? Wüssten Sie das auswendig?
Es ist Montenegro. Nächste Frage: Was wissen Sie über die Montenegriner_innen? Und was über deren Vorstellung davon, was die Europäische Union ist und was sie in der Zukunft sein soll?
Hier fängt das Problem an. Ich behaupte, die meiste Berichterstattung über den Westbalkan leistet keinen Beitrag zu einem Bewusstsein bei den Leuten, dass diese Länder mittelfristig Teil der Europäischen Union sein werden und dass das Effekte haben kann, an die wir heute nicht denken. Das ändert sich meist erst unmittelbar bevor die EU über einen Beitritt entscheidet. Die Westbalkanstaaten sind für die EU — misst man es an Unionsbürgerinnen und Bürgern und den meisten europäischen Regierungschefs/-chefinnen und Parlamentarier_innen — Fremde.
Man könnte jetzt sagen, das ist einem egal, weil es bei einem EU-Beitritt ja nicht darum geht, ob wir mit Leuten, die wir gar nicht kennen auf Urlaub fahren, sondern um einen Beitritt zu einer Organisation. Ich behaupte aber, es ist ganz genauso, wie mit fremden Leuten auf Urlaub zu fahren und noch mehr: Es ist, als würde man mit jemandem zusammenziehen, mit dem man ein paar Mal geschmust hat. Bevor man dort anlangt, muss man sich ein paar ehrliche Fragen stellen: Was wollen wir in dieser Beziehung und was ganz sicher nicht? Was muss ich über den anderen wissen, außer wo er sein Bankkonto hat?
Tell me what you think of me (when you look at me)
In jeder Buchhandlung liegen zwanzig blaue Bücher mit gelben Sternen drauf, in denen irgendwelche älteren Herren aus Westeuropa darüber philosophieren, was getan werden muss, damit die Europäische Union in Zukunft 1. noch existiert und 2. erfolgreich im globalen Wettbewerb bestehen kann. Ich weiß hingegen nicht genau was die Intellektuellen, die aktiven und pensionierten Politiker_innen und am wenigsten was die Jugend auf dem Westbalkan über diese Fragen denkt. Selbst wenn wir hier in der EU herumsitzen und uns vorgaukeln, dass alles, was diese Staaten wollen, der Beitritt ist und die Sache damit erledigt, so existieren auch in dieser Region naturgemäß Erwartungen, Ideen und Visionen für die Zukunft. Mit diesen sind wir vielleicht einverstanden, vielleicht aber auch nicht. Fakt ist: Wir kennen sie nicht. Es wäre aber notwendig, sich damit auseinanderzusetzen, denn wer sich schon einmal das Voting-Verhalten der Balkanstaaten beim Eurovision Song Contest angeschaut hat, kann sich ausrechnen, wie es aussehen könnte, wenn sechs südosteuropäische Staaten in der Union auf einmal stimmberechtigt sind und über die Zukunft der Europäischen Union mitentscheiden.
Erweiterungspolitik ist auch Beziehungsarbeit. Wir können nicht im luftleeren Raum darüber entscheiden, ob wir uns eine feste Beziehung mit den Westbalkanstaaten vorstellen können. Wir müssen Dinge probieren, reden und uns für das Experiment interessieren, in dem wir uns befinden.
1. Es gibt gute Gründe, sich gar nicht erst darauf einzulassen. Mal ehrlich, wir haben auch ohne Beziehungsprobleme genug Stress mit uns selbst. Ungarn duscht das ganze heiße Wasser weg, räumt aber den Geschirrspüler nicht ein, Österreich behauptet immer, die Tür zugesperrt zu haben, weiß aber gar nicht, wo der Wohnungsschlüssel ist, Deutschland braucht zu viel Platz im Kasten, in der Kommode, am Sofa, überall, Frankreich wickelt sich demonstrativ in beide Bettdecken ein und andere können einfach nicht mit der Haushaltskasse umgehen. Und da sind wir noch nicht einmal bei den Briten und ihrem Should I Stay or Should I Go.
Die Staaten des Westbalkan sind unterschiedlich weit, aber insgesamt lässt sich sagen: Keiner von ihnen ist bereit oder wird es in den nächsten Jahren sein. Unter den Westbalkanstaaten ist kein einziger Nettozahler, im Gegenteil, Motivation für den Beitritt ist auch, dass Geld von der Union an die Westbalkanstaaten fließt. Serbien und Kosovo haben ihren Grenz- bzw. Anerkennungsstreit nicht gelöst, Probleme mit Korruption, organisiertem Verbrechen, Pressefreiheit, Minderheitenschutz und mangelnder Rechtsstaatlichkeit bleiben trotz allen Anstrengungen der letzten Jahre bestehen. Von der Erfüllung der Maastricht-Kriterien ist man meilenweit entfernt, die Arbeitslosigkeit ist groß. In Bosnien sind 2 Prozent der Landesfläche vermint und 5000 Tonnen Munition, die aus dem Krieg übergeblieben sind, liegen in Lagerhallen, die europäischen Sicherheitsstandards für dieses Zeug nicht einmal nahekommen. Und die Verwaltungsreform, die Bosnien dringend nötig hätte, existiert nicht. Hochqualifizierte Arbeitskräfte verlassen die Region und und und.
Es stimmt, dass manche der sechs Staaten kleinere und größere Fortschritte machen. Mazedonien hat endlich seinen Namensstreit mit Griechenland beigelegt und heißt jetzt Nordmazedonien. Albanien arbeitet hart daran, sein Justizsystem zu reformieren. Mit Montenegro sind alle bis auf ein Kapitel der Beitrittsverhandlungen mit der EU geöffnet und man bringt die nationalen Gesetze in Einklang mit EU-Recht. Das ist alles wahr. Es ist aber auch wahr, dass es in einigen Bereichen wieder Rückschritte gibt. So gibt es in Serbien wieder laufend Attacken auf die Pressefreiheit, im vergangenen Jahr wurden in Serbien 102 Fälle von Bedrohung und Angriffen auf Journalist_innen und andere Medienschaffende dokumentiert. 102 sind echt viele, besonders für ein Land mit nur 7 Millionen Einwohnern.
Und ja, andere Mitgliedstaaten waren auch nicht bereit und sind beigetreten und wieder andere waren bereit, haben sich aber dann wieder vom europäischen Konsens wegentwickelt und die schmeißen wir auch nicht raus. Das sind aber keine Argumente für den Beitritt, sondern welche dagegen.
2. Eine Beziehung auf Augenhöhe ist die beste Sache der Welt. Wenn die Westbalkanstaaten zu früh beitreten, wird niemand von uns eine gute Zeit haben. Sie werden sich bevormundet und ignoriert fühlen, die Union, als müsse sie auf zu viele Kinder aufpassen. Das ist unwürdig. Die Staaten des Westbalkan haben viel zu bieten. Von uralter Kultur, wunderschönen Landschaften und wertvollen Menschen einmal abgesehen, ist die Region energiepolitisch nicht unbedeutend. Ein Beitritt würde auch das „abgeschnittene“ Griechenland mit dem Rest der Union verbinden. Ohne dass das je gemessen worden ist, würde ich der Region auch eine gewisse Improvisationsgabe unterstellen, die man in der Union durchaus brauchen könnte. Damit davon jemand etwas hat, ist es wichtig, dass Union und Beitrittskandidaten wirklich bereit sind.
3. Sagen wir nichts, was wir nicht meinen, versprechen wir nichts, was wir nicht halten können. Warmhalten ist zwischenmenschlich schon eine kleine Katastrophe, tut man es mit einem ganzen Land oder einer ganzen Region, so ist es eine große. Jedes Volk hat seinen Stolz und das völlig zu Recht. Wenn wir immer und immer und immer wieder sagen, wir müssen „die Beitrittsperspektive aufrechterhalten“, dann sollten wir besser wissen, was wir damit meinen oder ehrlich sagen: Das bedeutet überhaupt nichts, außer, dass wir uns an unsere eigenen Verträge und Kriterien halten. Der Satz: „Die Staaten des Westbalkan sollen so bald wie möglich beitreten“ bedeutet nur: Wenn sie die Kriterien erfüllen, werden wir darüber abstimmen. Und dann ist nicht gesagt, dass die Abstimmung positiv ausgeht.
Gleichzeitig müssen wir als Europäische Union den Vorwurf gefallen lassen, dass wir mitunter Führungspersönlichkeiten auf dem Westbalkan unterstützen, die ganz und gar nicht im Einklang mit den europäischen Werten handeln und das auch nie vorhatten. Jeder Bevölkerung eines beitrittswilligen Staates binden wir somit einen Bären auf, wenn wir von Europa als der besseren Welt sprechen, an die sie sich anzugleichen haben. Es ist eben auch Europa, das jene Anführer_innen in der Welt unterstützt, die ihre Bevölkerung möglicherweise betrügen und bestehlen. Und sei der Grund auch, dass wir sie für das geringste Übel halten und für „die, mit denen man noch am ehesten reden kann“. Und wenn man dem Kosovo die Visa-Liberalisierung nicht geben will, dann darf man sie ihm auch nicht versprechen.
4. Wir dürfen uns weder von Freunden oder Feinden dreinreden lassen. Es geht hier um uns und nicht um alle anderen. Der ehrliche Grund, den die Europäische Union für diese Erweiterungsrunde hätte, ist klar ein politischer: Man will die Westbalkanstaaten aufnehmen, damit die Region europäische Einflusszone wird statt russische, chinesische, türkische oder arabische. Das ist ein strategisch einleuchtender Grund, aber keine Basis für eine feste Beziehung. Man kann doch nicht einfach nur mit jemandem zusammenziehen, damit niemand anders zu ihm zieht und das Gspusi dann aus ist. Also … Kann man schon. Ist aber blöd.
5. Wir müssen unsere Erwartungen klar kommunizieren und dürfen auch noch mehr erwarten, als wir das bisher getan haben. Diese Erwartung muss nicht sein, dass wir morgen heiraten. Sie kann auch sein: Daten wir eine Weile. Unterhalten wir uns über die Zukunftsvisionen, die wir haben, schauen wir, wie es uns dann geht und reden wir dann darüber, ob wir ernst machen. Zu diesen Erwartungen gehören nicht nur die Kriterien der Union und die Anforderungen, die Staaten stellen, es geht ganz zentral auch um die Wahrnehmung, die die Unionsbürger_innen von einem Beitrittskandidaten haben. Wir können von keinem einzigen Bürger und keiner einzigen Bürgerin Unterstützung für die Aufnahme eines weiteren Mitglieds verlangen, wenn wir nicht rechtzeitig eine möglichst offene Debatte über die Vor- und Nachteile davon führen.
No one’s gonna love you (like I do)
Sich in den Balkan zu verlieben ist die einfachste Sache der Welt. Er lacht und weint mit dem Herz, klingt, riecht und schmeckt wie ein Märchen, das ein wenig traurig ist am Anfang, in der Mitte und am Schluss und dazwischen voller Sonnenwärme, wie man sie nie gekannt hat.
Ich persönlich bleibe mit dem Herz jedes Mal aufs Neue an ihm hängen, wenn wir uns begegnen. Und gleichzeitig bricht mein Herz jedes Mal ein bisschen, wenn ich die Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission lese und sich wieder nichts getan hat. Und gerade, weil ich ihn so gerne habe, will ich, dass wir das richtig machen. Auch wenn es wilde Gründe gibt, alles zu überstürzen, mit Wollen allein ist es hier nicht getan. Es gibt noch so viele angenehme Dinge, die wir gemeinsam tun können, bevor wir zusammenziehen. Meinen wir es ehrlich, dann brauchen beide Seiten noch Zeit. Damit wir entscheiden können, ob wir etwas Fixes mit diesem einzigartigen Stück Erde und seinen beeindruckenden Menschen wollen, brauchen wir noch ein paar Dates. An guten und an schlechten Tagen. Und wir sollten noch viel mehr schmusen. Und wenns dann passt, können wir sagen: It’s you.
Oh Oh, It’s always you
Oh Oh, I always knew
Oh Oh, It’s you