Die Buch-Dealer meines Lebens: eine verdiente Liebeserklärung

Sie streiten. Fast immer streiten sie. Es geht darum, ob der andere irgendwas irgendwo hingelegt hat oder es von dort weggenommen oder häufig auch um irgendeine Reise. Meine Buchhändler fahren gerne wo hin.

Man kann gar nicht sagen, sie reisen gerne. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie das Wort „reisen“ aussprechen würden. Vielleicht ein bisschen so, als hätten sie zwar mit wachsender Konträrfaszination irgendwo davon gelesen, dass manche Leute das machen, aber als fänden sie, reisen sei was für Hipster oder solche, die irgendetwas oder sich selbst suchen. Meine Buchhändler suchen nichts, sie wissen genau, wo alles ist. Und manchmal fahren sie dann dort einfach hin und schauen es sich an. Diskutiert wird dann leidenschaftlich die Frage, ob man irgendwo hinfährt und wenn ja, wohin und wann am besten. Dann sagt sie: „Nur, weil du nie nach Kroatien willst …“ Und er: „Ich hab in meinem Leben noch nicht von Kroatien geredet!“ Und mitunter bekommt man dann per WhatsApp Wochen später ein Foto aus Venedig geschickt. Wenn sie zurück sind, erzählen sie immer dasselbe: „Es war seeeehr schön. Wir haben sehr gut, aber verhältnismäßig teuer gegessen und wir waren in fünf Museen. Das war nicht alles interessant, was da ausgestellt war, aber zwei drei Sachen waren schon wirklich gut. Ja, ja das stimmt.“ 

Bernhard und Sandra sind eine Errungenschaft meines Erwachsenenlebens. Ihnen gehört die Buchhandlung, die meiner völlig unterirdisch angelegten ersten Wohnung in der Josefstadt am nächsten lag. Anfangs kaufte ich dort gar keine Bücher, sondern nur eine feministische Zeitschrift, über deren monatliches Eintreffen ich stets von Bernhard telefonisch verständigt wurde. Wir gingen es langsam an. Ich wusste es damals noch nicht, aber in meinem Leben klaffte ein mittelgroßes buchhändlerförmiges Loch, in das genau Bernhard Riedl passte. Den Buchhändler seines Lebens muss man sich sorgfältiger auswählen als Gspusis, Friseure und Installateure. Alternativ hätte ich mir auch einfach einen Therapeuten suchen können. Das hätte wohl dasselbe oder vielleicht sogar weniger gekostet, wäre aber eine Lösung für weit weniger Probleme gewesen.

Ich erkannte also diesen Buchhändler als den wahren meines Lebens, wenn er mir halbgrantig — stets beteuernd, er sei nicht grantig, er sei eigentlich fast nie grantig — wilde Bücher über traurige Trinker, nervöse Intellektuelle, die in ihren Plattenbau-Wohnungen einem komplexen Leben frönen, empfahl. Seine Lieblinge sind oft Charaktere, die ihm im wahren Leben vermutlich fürchterlich auf die Nerven gehen würden, sobald ihm die humoristische Distanz zu ihnen entglitte. Das Sachbuchregal stellt er immer gerade so voll mit linken Denkern, Kapitalismuskritik und Freihandelsgegnern, dass mir das auffällt und ich seufze. Als ich begann, bei NEOS zu arbeiten und meinte, ich glaube, das sei der Beginn von etwas Großem, sagte er: „Das befürcht’ ich auch.“

Der Lebensbuchhändler hat eine Lebensbuchhändlerin: Sandra. Sandra steht auf Kunst, auf Theater, auf Mode, trägt immer schwarz und eine große Eulenbrille. Sie kommt spielend durch 80 Prozent eines Gesprächs, ohne einen Gesichtsmuskel zu bewegen und ist die gnadenlose Richterin über alles, was Unordnung im Universum stiftet. Sie liest Bücher aus Europa, gerne über Italien. Es darf auch um Aussteigerfiguren gehen, zerrüttete Familien und sogar um die Liebe. Aber wer braucht schon noch mehr Bücher über die Liebe. Eh. Sieht sie auch manchmal so. An wolkigen Tagen. Wären wir miteinander in die Schule gegangen, wär sie sicher die gewesen, mit der ich heimlich am Friedhof nebenan geraucht hätte. Am Anfang sagte sie oft „Der Bernhard ist nicht da“, wenn ich kam, still hinnehmend, dass ich da war, um mit ihm den aktuellen Fall — von U-Bahn-Beobachtung, über philosophisches Problem, bis hin zum urbanalen Grant — zu erörtern. Es ist ein Prozess, der oft so abläuft:

Es weht mich bei der Tür herein, ich erzähle im freien Stream of Consciousness, was ich gerade erlebt habe, an welche Filmszene oder wahre oder nachdrücklich erfundene Geschichte mich das erinnert, seufze dann, sage, ich brauche ein Buch, idealerweise natürlich etwas lebensveränderndes.

Bernhard: Das vielleicht? Ich hab keine englischen sonst, aber das schon, weils so cool is.
Ich: Alle sagen, ich les dauernd nur über Krieg und Waffen. Jetzt will ich einmal einen Roman und find keinen. Ach, ich weiß nicht. Das frustriert mich alles.
Bernhard verdreht die Augen.
Ich: Es liegt nicht an dir, Bernhard, es liegt an der Welt. Es liegt daran, dass die Leute einfach nur mehr Schrott schreiben und sich Verlage lauter blöde Titel ausdenken und alles drucken!
Bernhard seufzt: Ich seh schon, das wird heut nix.
Ich: Ich glaub auch. 

Oder:

Ich: Weißt, ich bin eh total selber schuld an der ganzen Situation. Und Kopfweh hab ich auch.
Bernhard: Das kommt vom intensiven Leben. 

Oder zu Weihnachten in Doppelconférence:

Bernhard: Es is schon der 20. und erst heut hab ich den ersten rausg’haut. War super für meinen inneren Frieden. Was magst du denn? Einen Sessel als erstes, oder? Dann ein Bier? Ich bring dir deine Bücher. Sollen wir irgendwas als Geschenk verpacken? (Bei ihm trau ich mich da nie ja sagen.)
Sandra: Is irgendwas davon eh für dich? Weil du sollst ja zu Weihnachten keine Lesenot haben. Du schaust müde aus. Da, nimm ein Buch. Ich packs dir ein, ja? (Bei ihr blicke ich immer dankbar drein und sage: Ja, bitte!)

Sehr gute Neuigkeiten erzähle ich zuerst meiner Mama und dann recht schleunig meinen Buchhändlern. Aber auch die schlechten trage ich dorthin. Am Todestag einer Freundin, der mich jedes Jahr sehr quält, trank ich das erste Mal mit meinen Buchhändlern. Wenn die Welt fürchterlich finster ist, ist es das bei Bernhard und Sandra meistens auch. Aber konstruktiv finster.

Weil Bernhard ein Admira-Fan ist, können wir uns beim Fußball nicht einigen (Rapid). Aber dann sind wieder solche Sachen wie heute, wo ich ihm vom Ernst Molden vorschwärm’ und er sagt, ja, den findet er auch ganz gut und vor allem habe der einen hervorragenden Musikgeschmack und ob ich nicht dieses eine Lied kenn vom Fred Eaglesmith. Das habe nämlich der Molden übersetzt und da gehts um eine Hochzeit und um Brautjungfern und es heißt bei ihm: „Dei Schwester waand“. Und er habe noch ein anderes Lied übersetzt, das auch der Sir Tralala neu interpretiert und in eine Nonsense-Sache verwandelt habe und es sei „ja immer g’fährlich, wen man so a todtrauriges Liad so veralbert“. Und er sagt das mit der Ernsthaftigkeit, die einer solchen Aussage gebührt, weil er ihm klar ist, dass Musik letzten Endes das ist, was dieses ausgefranste Universum zusammenhält.

Und wenn ich nicht mehr weiß, was ich noch tun oder sagen soll, oder wo ich noch hingehen soll, dann geh ich zuerst einmal zu meinen beiden Buch-Dealern und schau, was dort an Weisheit niedergeht. Ich schreib ihnen aus dem Urlaub Karten und hab selbst auch schon Post zu ihnen bekommen. Wenn man gerade mitten in einer guten Geschichte ist, heben sie das Telefon nicht ab. Manchmal bin ich mir gar nicht sicher, ob sie es dann überhaupt hören. „Gibt eh den Anrufbeantworter.“ Sie haben mir lebensverändernde Bücher verkauft. Die Buchhandlung macht sich gut, obwohl die zwei keinen Finger für Werbung rühren, nicht auf diesem Facebook sind und nicht einmal eine gescheite Website haben. Brauchen sie alles nicht, weil sie eine Art Portal in den eigenen Kopf sind, in dem sie einen Gott sei Dank nicht allein lassen, denn dort geht man nur allzu leicht verloren. Und alles, was einem wie die ultimative lost cause und völlig niederschmetternd schien, als man ihr Geschäft betreten hat, ist immer noch lost und niederschmetternd wenn man wieder rausgeht, aber man hat oft mit ihnen gemeinsam die richtigen Worte für das eigene Elend gefunden und einen Sack Bücher in der Hand, was ja so schlecht dann auch selten ist.