Den Bundeskanzler zu Europa interviewen – Nobody said it was easy, no one ever said it would be so hard

Einen Spitzenpolitiker zu interviewen ist nicht leicht. Wer genug Medientraining hat, weicht geschickt jeder Frage aus und bringt Wordings und Positionen unter, nach denen überhaupt nicht gefragt wurde. Im Nationalratswahlkampf gab es in der Politikbubble in verschiedenen Variationen den beliebten Schmäh: „Sebastian Kurz, muss das österreichische Pensionssystem reformiert werden?“ – „Ich habe die Balkanroute geschlossen.“

Journalismusstudent_innen kennen das Interview, das der britische Journalist Jeremy Paxman mit dem damaligen britischen Innenminister Michael Howard führte. Paxman stellte dem Minister, der sich um eine Antwort wand wie ein Aal,  zwölfmal dieselbe Frage. Spitzenpolitiker weichen aus, sie positionieren sich selbst auf dem Spielfeld der Weltpolitik, geben sich Rollen, die sie vielleicht gar nicht haben. Sie erzählen eine Geschichte, von der sie wollen, dass die Wähler_innen sie hören. Und manchmal gefällt den Journalist_innen die Geschichte so gut, dass sie dabei helfen, sie zu erzählen.

Der EU-Korrespondent des Standard, Thomas Mayer, interviewte den österreichischen Bundeskanzler, Sebastian Kurz, Mitte Juni 2018 zu dessen Europapolitik. Es ist kein Geheimnis, dass Herr Mayer für den Kanzler eine gewisse Sympathie hegt, das bringt er in Tweets immer wieder zum Ausdruck. Gegen Sympathie kann man sich nicht wehren und man soll sie keinem verübeln. Dennoch … Eventuell hat er sich ein bisschen mitreißen lassen von der Story des Kanzlers.

1. Was ist die Geschichte?

Die ist leicht zu finden. Sie steht nämlich schon im Titel: „Wer auf Orbán und Salvini herabschaut, zerstört die EU“. Nur zur Klarstellung: Den Titel wählt im Normalfall nicht der Interviewte oder die Presseabteilung des Kanzleramtes. Der Titel ist die Antwort auf die Frage: Was is die Gschicht? Beim Standard hat sich Thomas Mayer oder jemand anderes, der den Text ins Layout einrichtete, dafür entschieden, dass das, was der Kanzler erzählt haben wollte, auch wirklich die Geschichte hinter diesem Interview ist. Ausgedruckt hat die Online-Version des Interviews 6,5 Seiten. Auf dieser Länge nimmt Kurz auf seine Story sechsmal Bezug:

  • wenn „diese ständigen Spannungen in der Union, dieses aufeinander Herabschauen, diese Entgleisungen in der Tonalität, wenn das endlich weniger wird …“
  • „Mir wurde heute im österreichischen Parlament vorgeworfen, dass ich Kontakt zu manchen Regierungen in Ländern der EU pflege.“
  • „Sie werden doch nicht glauben, dass ein Viktor Orbán oder ein Salvini kompromissfähiger werden, je mehr man von oben auf sie herabschaut.“
  • „Inhaltliche Unterschiede kann man im Normalfall wesentlich leichter überwinden, wenn persönliche Beleidigungen oder Herabwürdigungen ganzer Staaten unterbleiben.“
  • Geeinter sein hieße für ihn „Diskussion auf Augenhöhe. Ende des Herabschauens auf andere.“
  • „Es wird deshalb so wenig diskutiert, weil jeder, der nicht sofort zustimmt, wenn es darum geht, mehr nach Brüssel zu überweisen, automatisch als Antieuropäer abgestempelt und kritisiert wird […]Viele […] stellen es so dar, als wäre man ein schlechter Europäer, wenn man nicht gleich breitwillig sagt, wir überweisen möglichst viel und ohne Diskussion nach Brüssel.“

Die Story, die Kurz erzählen will, ist also: Das Verhalten der europäischen Staaten gegenüber Polen, Ungarn und jetzt auch Italien ist herablassend und bevormundend und spaltet die Union. Er, Sebastian Kurz, will die Union aber einen, deshalb unterhält er Kontakte zu Politikern, die in der Union umstritten sind und nimmt dafür in Kauf, dass sogar er (!) angefeindet wird. „Man wird ja wohl noch miteinander reden dürfen“ sozusagen.

Einige inhaltliche Anmerkungen aus meiner subjektiven Sicht, die Thomas Mayer nicht macht:

  • Sebastian Kurz wird nicht dafür kritisiert, dass er Kontakte zur Orbán etc. unterhält. Das tun die meisten anderen Regierungsschefs auch. Er wird dafür kritisiert, dass er sich mitunter problematische Allianzen sucht. Orbán ist nicht dafür umstritten, dass er seine Grenzen nicht geöffnet hat, sondern für den menschenrechtlich problematischen Umgang mit Flüchtlingen, für die Einschränkung der Pressefreiheit in seinem Land, für Ausbau der staatlichen Kontrolle über viele Bereiche des täglichen Lebens, für Vetternwirtschaft, für die Anti-EU-Kampagnen, für seine Angriffe auf George Soros und die Central European University. Sebastian Kurz wird nicht dafür kritisiert, dass er mit Orbán spricht, sondern dafür, dass er diese Dinge nicht zum Thema macht. Wir können nicht wissen, ob er sie hinter verschlossenen Türen anspricht. Reinhold Lopatka wurde einmal bei Im Zentrum gefragt, ob er Kurz schon einmal hinter verschlossenen Türen etwas Kritisches über Orbán sagen hat hören und hat die Frage nicht beantwortet. Wenn es wirklich darum geht, die Union zu einen, so wäre es schön, wenn der Kanzler seine guten Beziehungen zu schwierigen Playern in Europa dazu nutzen würde, diese zurück in die europäische Mitte zu holen. Genau darauf gibt es aber keine Hinweise. Vielmehr sieht es manchmal ein wenig so aus, als orientiere er sich in gewissen Fragen an ihnen.
  • Kurz selbst hat auch Spannungen in der Union ausgelöst, denkt man nur an seinen Umgang mit Deutschland aber auch mit Griechenland während der Flüchtlingskrise oder den Disput mit Italien. Er behandelt also nur andere Staaten nicht mit dem Respekt, den er sich von anderen Staaten für Orbán und Salvini wünscht. Es ist nicht so, als brüskiere Kurz nicht auch immer wieder andere Regierungschefs. Dass Isolation schwieriger Player nicht die Antwort auf deren Schwierigkeit ist … Geschenkt!
  • Kurz‘ Anmerkung, man würde „kritisiert“ und „abgestempelt“, wenn man nicht „sofort zustimmt“, „möglichst viel und ohne Diskussion“ nach Brüssel zu überweisen, ist auch eher schwierig. Erstens einmal muss sich jeder Spitzenpolitiker Kritik gefallen lassen. Das Ende der Kritik kann nicht das Ziel sein, das wir in einer Demokratie anstreben. Die Kritik bezog sich auch nicht darauf, dass Österreich nicht bereit ist, „möglichst viel“ an Brüssel zu überweisen. Davon hat nie irgendjemand gesprochen. Es ging beim EU-Budget darum, dass die österreichische Bundesregierung z.B. beim vielgenannten Außengrenzenschutz, bei Erasmus etc. Mehrleistungen von der Union erwartet, aber – etwa durch höhere Rabatte bei den Beitragszahlungen – weniger zum EU-Budget beitragen will. Der Brexit spielt da auch mit, aber vereinfacht gesagt, will die Bundesregierung beim EU-Budget an Stellen kürzen, die sie nicht betrifft: bei der Strukturpolitik, statt bei der Agrarpolitik und bei der Verwaltung, die auf EU-Ebene winzig ist und kaum wächst, obwohl ihre Aufgaben mehr und komplexer werden. Der Vorwurf war also der, dass die Bundesregierung eine unaufrichtige Debatte führe.

2. Vorbild Rutte – Kurz ist kein Liberaler, würde aber gern so gesehen werden

Die Sache mit Mark Rutte … Im Untertitel des Interviews heißt es „Sebastian Kurz erklärt seinen Europakurs. Vorbild ist der Liberale Mark Rutte“. Abgesehen davon, dass das impliziert, Kurz sei ein Liberaler, was wohl eine Darstellung ist, die ihm gefällt und die Mayer aufnimmt, aber gemessen an anderen Liberalen und liberalen Idealen nicht der Fall ist … Ob Rutte wirklich Vorbild ist, weiß nur Sebastian Kurz. Insofern hätte es zumindest „Vorbild sei der Liberale Mark Rutte“ heißen müssen.

Das ist aber gar nicht das Problem. Es ist nämlich gar nicht Kurz, der Rutte aufbringt. Nirgends im Interview sagt Kurz von alleine: „Rutte ist mein Vorbild“. Das läge, nach allem, was wir bisher über Sebastian Kurz zu wissen glauben, auch nicht gerade in seiner Natur. Thomas Mayer sagt: „Der niederländische Premierminister Mark Rutte hat das diese Woche in einer Rede vor dem Europäischen Parlament eindringlich betont.“ Daraufhin Kurz: „Seine Rede war sehr gut.“ Dreimal bringt Thomas Mayer Rutte auf. Irgendwann kommt dann endlich die Frage: „[Rutte] scheint für Sie so etwas wie ein Rolemodel, ein Leitbild zu sein, wenn man das so sagen darf über Regierungschefs.“ Kurz: „Ja, durchaus. Er ist ein erfahrener, charismatischer Regierungschef, sicherlich einer meiner engsten Vertrauten und Verbündeten.“ Und schon ist Rutte Vorbild.

3. Die Vision des Sebastian Kurz für Europa

Mayer fragt Kurz nach seiner Vision für Europa. Kurz antwortet, er habe ja eh die Rutte-Rede gehört. Mayer fragt ihn ein paar andere Dinge und stellt die Frage erneut. Diesmal hat er mehr Glück und bekommt zumindest eine Antwort, wenn auch keine sehr konkrete: Schlanker solle die Union sein, geeinter und fokussierter. Das ist jetzt weder eine Utopie noch eine Anleitung für pragmatische Reformen, aber gut, es ist auf einfache Begriffe heruntergebrochen. Er beginnt dann zu erklären, man müsse Entscheidungsstrukturen reduzieren und die Zahl der Entscheidungsträger. Man könnte meinen, er sei konsequenterweise für die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips bei Abstimmungen auf europäischer Ebene. Stattdessen meint er aber die Zahl der Kommissare und die beiden Sitze des Europäischen Parlaments, beides Dinge, die man angehen sollte, aber nicht der entscheidende Punkt. Nach dem Einstimmigkeitsprinzip wird auch gar nicht gefragt. Wäre aber spannend.

4. Eurotom interviewt sich selbst

Tom Mayer interviewt sich immer gerne gleichzeitig selbst. Daher hat das ganze Interview viele Passagen über das, was er sich so gedacht hat, mit ein paar Sugestivfragen dahinter und seiner persönlichen Einschätzung. Jetzt kann man sagen, im Sinne eines guten Gespräches, kann man das so machen, aber eigentlich müsste man seinen eigenen Senf aus diesem Interviewformat heraushalten, wenn man sauber interviewt, finde ich.

5. Dinge, die wir jetzt wissen, die wir davor noch nicht wissen konnten 

Der Neuigkeitswert des Interviews ist nicht sehr groß. Gedanken, die ich von Kurz davor noch nicht gehört hatte, waren jener, dass der Mangel an europäischen Trägerfiguren womöglich auf eine gewisse Ermüdung der demnächst scheidenden Kommission zurückzuführen ist und das möglicherweise mit der nächsten besser sein könnte. Auch die Zeilen zur Idee eines Europäischen Währungsfonds ist etwas, das wir europapolitisch nicht sehr häufig diskutieren, im Gegensatz zum Außengrenzschutz. „Was war der Neuigkeitswert?“ ist übrigens oft ein guter Test dafür, ob man gerade wirklich etwas dazu gelernt hat, oder seine Zeit damit verbracht hat, die immergleichen Botschaften, die ein geübter Politiker platzieren wollte, aufzunehmen. #lifehack

6. Fragen, die in diesem Interview entweder nicht gestellt oder nicht beantwortet und nicht neu gestellt wurden

  • Denkt Kurz, wenn er sagt, er möchte, dass Europa „geeinter agiert“, manchmal an die Momente, wenn er zur Uneinigkeit Europas beigetragen hat?
  • Wie begründet er die Behauptung, die Union „blähe sich immer weiter auf“ hinsichtlich kaum wachsender Verwaltungsstrukturen und der Tatsache, dass die Union auch durch Beitritt neuer Staaten gewachsen ist?
  • Wann ist Kurz bereit, über ein Aufgeben der ohnehin ausgehöhlten Neutralität zumindest zu diskutieren, wenn er so vehement für eine engere Zusammenarbeit bei der Verteidigungspolitik eintritt?
  • Inwiefern nutzt Kurz seine guten Kontakte zu Orbán und seinen Umgang auf Augenhöhe mit Salvini, um zur europäischen Einigkeit beizutragen? Welche konkreten Beispiele gibt es dafür, dass er dazu überhaupt einen Beitrag leistet?
  • Hält Kurz sich für einen Liberalen? Woran macht er das fest?
  • Was sind die 5% der Positionen, in denen Kurz nicht mit Rutte übereinstimmt und warum?
  • Kurz ist gegen die Einteilung von Menschen in gute und schlechte Europäer. Gibt es überhaupt einen Punkt, an dem jemand für Kurz ein schlechter Europäer ist?
  • Auf die Fragen nach der Reform der Agrarpolitik hat er einfach nicht geantwortet. Ist Österreich unter irgendwelchen Umständen bereit, die Agrarpolitik so umzugestalten zu helfen, dass Mittel treffsicherer vergeben werden, auch wenn das bedeutet, dass wir aus dem einen oder anderen Topf nicht mehr so viel herausbekommen? Er nimmt nämlich immer nur Bezug auf die Strukturpolitik, ein Topf, aus dem Österreich – im Gegensatz zu anderen Staaten besonders im Osten – weniger herausbekommt.
  • Mayer fragt beim Thema EU-Reformen, die Rutte fordert, auch nach einer „Neuverteilung von Kompetenzen“. Darauf antwortet Kurz nicht.
  • Ist Kurz dafür, dass das Einstimmigkeitsprinzip (überhaupt in Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik) irgendwann abgeschafft wird? Wenn nein, warum nicht? Wenn ja, wann und unter welchen Umständen?
  • Was außer der Außengrenzenschutz ist für Kurz noch eines dieser vielbesungenen „großen Themen“, in denen es mehr Europa braucht? Geht dieses „Mehr“ an Europa auch mit einem Abtreten von Kompetenzen nach Brüssel einher? Wenn ja mit welchen und wann? Wenn nein, woher soll das Mehr dann kommen?
  • Inwiefern sieht Kurz beim Außengrenzenschutz auch das Verhalten von manchen Mitgliedstaaten hinsichtlich Korruption und Verlangsamung von Prozessen und dem Lähmen europäischer Zusammenarbeit als problematisch? Was sollte man dagegen tun und wer soll es tun?
  • Abgesehen davon, dass Kurz nicht an das Zustandekommen eines fairen Verteilungsschlüssels für Flüchtlinge und eines europäischen Asylsystems zu glauben scheint, hielte er das grundsätzlich für gute Ideen?
  • Welche konkreten Maßnahmen der EU oder welche neuen Maßnahmen gedenkt Kurz am Westbalkan zu unterstützen oder zu setzen, um die Stabilisierung in den Staaten des Westbalkan voranzubringen und dem Wachstum der Region zu helfen?
  • Was hält er davon, dass sein EU-Minister Blümel momentan nicht gerade durch Sachkompetenz auffällt?
  • Welche Rolle spielt für Sebastian Kurz das Österreichische Parlament und wie würde er dessen Rolle, dessen Stärken und Schwächen beschreiben?
  • Gibt es Fehler, die er sich für seine ersten Monate als Kanzler eingesteht?

 

And so many more …